Yoga und gesellschaftliches Engagement: Auf der eigenen Matte bleiben oder handeln?
von Alexandra Eichenauer-Knoll
in
Inspiration
Oder beides? Wie Yoga uns in herausfordernden Zeiten unterstützen und leiten kann, darüber schreibt Yogalehrerin und Aktivistin Alexandra Eichenauer-Knoll.
Sollen wir uns dem Schrecklichen aussetzen oder auf Nachrichten verzichten? Ist Yoga nicht Rückzug von all dem?
14.3.2022: Bevor ich diesen Artikel zu schreiben beginne, lese ich noch die letzten Schlagzeilen über die Ukraine. Bereits über 2,8 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen – Moskau rekrutiert syrische Söldner – österreichische Hilfsorganisationen stocken ihre Teams in der Ukraine auf. Was ist das eigentlich alles für ein Irrsinn?
Wenn es einen Sinn in all dem Schrecklichen gibt, dann vielleicht: Wir spüren Verbundenheit mit diesem geschundenen Land und seinen Menschen. Waren sie für die meisten von uns bis vor Kurzem noch relativ fern, so fühlen und bangen wir nun intensiv mit ihnen. Daraus entsteht ganz selbstverständlich die Bereitschaft zu helfen und Verantwortung zu übernehmen.
Was hat das mit Yoga zu tun, fragst Du Dich jetzt vielleicht?
Ist es nicht die Aufgabe einer Yogalehrenden, Menschen zu entspannen und einen sicheren Ort zu bieten, wo die Übenden für 60, 90 oder 120 Minuten ganz bei sich sein dürfen – hinspüren, gut für sich sorgen, aufatmen, quälende Gedanken zur Ruhe kommen lassen? Natürlich, das stimmt!
śaucātsvāṅgajugupsā parairasaṃsargaḥ
Yoga Sutra 2.40
Übersetzung von T.K.V. Desikachar:
„In dem Maße, in dem sich Reinheit in uns entwickelt, werden wir übermäßige Sorge um die vergänglichen Aspekte unseres Körpers aufgeben und einen angemessenen Umgang im Kontakt mit anderen Menschen finden.“
Quelle: „Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali. Eine Einführung“
Saucha inspiriert zum „Abstand-Gewinnen“
Auf der zweiten Stufe des achtfachen Pfades von Patanjali findest Du die Niyama. Es sind Empfehlungen für einen heilsamen Umgang mit Dir selbst.
Saucha, das erste Niyama, wird traditionell als Reinheit beschrieben. Ich spreche lieber von „Abstand gewinnen“, z. B. von Alltagssorgen und Nachrichten, die uns emotional aufwühlen. Saucha ist so auch das Reinigen von einem Zuviel an Negativität.
Ein Niyama hat im Yoga den Rang einer moralischen Grundübung. Saucha ist also nicht einfach nur ein Wellness-Tipp nach dem Motto „Gönn Dir doch mal was“.
Regelmäßig Abstand vom Alltag zu gewinnen ist vielmehr zutiefst notwendig, sonst kommst Du auf dem Yogaweg nicht voran. Das Feuer der Begeisterung und die Freude an der eigenen Entwicklung helfen Dir dabei.
Moralisches Üben braucht also nicht moralinsauer sein, sondern kann voller Begeisterung daherkommen!
Yoga fördert auch eine starke innere Haltung
Im westlichen Yoga werden vor allem Asana-Positionen und Pranayama-Übungen intensiv praktiziert. Yoga fördert aber auch das Entstehen einer inneren Haltung.
Und jetzt haben wir ein kleines Problem. Denn diese innere Verfassung sieht man nicht. Sie ist nicht wirklich an einem perfekten Sitz, einem hingebungsvollen Yogaflow oder einem wissenden Lächeln erkennbar.
Die innere Haltung ist vielmehr ein heilsam ausgerichteter Zustand, ein Bhavana. Und das lässt sich, zumindest nicht so leicht, messen und vor allem – nachahmen.
Ein Bhavana manifestiert sich erst in der konkreten Tat. Da zeigt sich, ob Du in der Herzensqualität von Liebe Maitri, Mitgefühl Karuna, Mitfreude Mudita oder Gleichmut Upeksha handelst.
Diese Seinszustände helfen Dir, auch in schwierigen Situationen, trotz all dem Furchteinflößenden und Unergründbaren, einfach da zu sein – möglicherweise auch für andere.
Wenn Du das verstanden hast, ist es von der Matte nur ein kleiner Schritt in den Alltag. Du wechselst einfach den Ort, es gibt kein ‚Entweder-oder’, sondern nur ein verbindendes ‚und’.
Matte und Tat sind kein Gegensatz. Du selbst bist die Verbindung, die Brücke zwischen Rückzug und sozialer Begegnung.
Mit der richtigen Haltung erkennst Du den Sinn – in der Stille und in der Tat. Im Idealfall stehst Du mit beiden Füßen gut geerdet am Boden, spürst die Kraft aus der Mitte, die Freude im Brustbein und kommunizierst mit entspannter Zunge und ebensolchen Augen.
Die äußere Form macht zwischen der Position Virabhadrasana II (Krieger 2) und einer Alltagssituation einen sichtbaren Unterschied. Aber das ist nur die äußere Form, an der solltest Du nicht hängen bleiben!
Kannst Du auch in Alltagshandlungen Freude und Forschergeist entwickeln? Merkst Du manchmal, wie in einem guten, ehrlichen Gespräch eine Weite entsteht – zwischen Dir und Deinem Gegenüber? Danach zu suchen macht Sinn.
Dann finden wir auch die Kraft, über das Unfassbare zu sprechen und unsere Gefühle auszudrücken – statt sie zu unterdrücken. Wissend, dass wir nicht alles lösen können, aber mit jeder achtsamen Handlung zumindest einen kleinen Schritt in die richtige Richtung setzen.
Yoga hilft, Abstand zu gewinnen, und befähigt genau deswegen zum Handeln
Konsequente Yogapraxis hilft Dir, Abstand zu all den schrecklichen Nachrichten zu gewinnen und Deine Emotionen zu entspannen. Denn Gefühle der Hilflosigkeit und übermächtige Ängste sind Energieräuber und machen Dich im Extremfall sogar handlungsunfähig.
Yogapraxis stärkt aber auch Deine innere heilsame Einstellung zur Welt – Bhavana. In dieser Haltung kannst Du Dich dann wieder – entsprechend Deinen inneren und äußeren Ressourcen – für die Probleme dieser Welt öffnen und Hilfe tatkräftig anbieten.
Buch-Tipp: Yoga und soziale Verantwortung
Alexandra Eichenauer-Knoll schlägt eine Brücke zwischen dem eigenen Yoga-Übungsweg und der Einbindung der Yama- und Niyama-Prinzipien in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Autorin befähigt Leser:innen dazu, durch Yoga politisch wirksam zu werden, und ermutigt zur Übernahme von sozialer Verantwortung.
Das Buch ist eine Aufforderung zum Tieferdenken auf das Verbindende zwischen Spiritualität und Politik, zwischen moralischen Grundwerten und hinspürender Selbsterfahrung.
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